Vogel Selbsterkenntnis

Im Bayerischen Wald mit Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde (1867)

Franz Krojer, 2023

Eine Ausarbeitung von:


Übersicht

8.8. (Donnerstag): Leipzig-Franzensbad-Eger
9.8. (Freitag): Eger-(Cham?)-Waldsassen-Weiden
10.8. (Samstag): Weiden-Schwandorf-Cham-Chammünster-Lamberg-Cham
11.8. (Sonntag): Cham-Arnschwang(Eisenbahn) - Madersdorf-Hoher Bogen-Hohenwarth-Ottenzell-Engelshütt-Lam
12.8. (Montag): Lam-Waldeck-Mühlriegel-Bodenmais(Gasthaus Janka)--Silberberg-Bodenmais
13.8. (Dienstag): Bodenmais-Arber-Eisenstein-Zwiesel
14.8. (Mittwoch): Zwiesel-Rabenstein-Zwiesel-(Regen)
15.8. (Donnerstag): Regen-Weißenstein-Schlossau-Bischofsmais-Rusel
16.8. (Freitag): Rusel-Greising-Ulrichsberg-Berg-Egg-Weibing
17.8. (Samstag): Weibing-Deggendorf -- Eisenbahn nach Regensburg
18.8. (Sonntag): Regensburg-Donaustauf-Walhalla
ab 22.8. (Donnerstag): Meiningen
Trennung in Eisenach, Briefwechsel

1876 Nietzsche in Klingenbrunn

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Drei Übersichten



„Der Bayrische Wald ist der südwestl. Theil des grossen Böhmer-Wald-Gebirges und umfasst die höchsten Gipfel desselben (Arber 1476m , Rachel 1458m).“ (Baedeker, 1882)


Regensburg-Deggendorf: Luftlinie 65km bzw. 91 Donau-Flusskilometer



                                   

Prämissen des Maschinen-Zeitalters. — Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.
(Menschliches Allzumenschliches II, 278)


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8.8. (Donnerstag): Leipzig (9h mit Eisenbahn) nach Franzensbad - zu Fuß nach Eger („goldner Stern“)




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9.8. (Freitag): Eger- Schloss-Eger - Eger-Bahnhof - zu Fuß nach Waldsassen oder gleich nach Cham? - Waldsassen-Klosterwirt - Zug nach Weiden - Ausflug mit Zug nach Parkstein-Hütten - Weiden (Gasthaus zum Schwan)





Im Klosterwirt Waldsassen: Wie wir so sitzen, tritt ein freundlicher jovial aussehender Herr heran, redet uns im scheensten Meißner Dialekt an, freut sich, Leipziger zu treffen, und entpuppt sich denn bald als einen in diesen Gegenden Erfahrnen. Wir überlassen uns seiner wohlmeinenden Leitung: und wie tausend Male haben wir es hinterher gepriesen daß Fortuna uns hier, wo wir sonst von der Eisenbahn abgebogen sein würden, einen kundigen Mentor schickte, der uns vor einer langen ermüdenden Tour durch mittelmäßige Gegenden bewahrte. Er rieth uns nämlich, die Strecke bis Cham ganz per Bahn zu machen, und, da der Zug gerade abging, so setzten wir uns, kurz resolvirt, ein und fuhren, dem Rathe unseres Lenkers gemäß, zunächst nach Weiden und von dort noch auf der Bahn nach Bayreuth, eine kurze Strecke, bis Parksteinhütten. (Reisebericht Rohde)


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10.8. (Samstag): Weiden - Schwandorf (Umstieg) - Cham - Chammünster - Lamberg - Cham (Gasthaus Scherbauer, Fuhrmanngasse/straße)



Lamberg:

Nietzsche:
Cham:


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11.8. (Sonntag): Cham-Arnschwang(Eisenbahn Richtung Pilsen) - Madersdorf-(Rimbach)-Hoher Bogen-Hohenwarth-Ottenzell(Musik)-(Haibühl)-Engelshütt-Lam(Posthalter)<


Arnschwang
Bahnstation 1862:

DIE WELT (https://www.welt.de/print-welt/article529227)

Wo dem Faulen und Sorglosen das Glück begegnet
Veröffentlicht am 21.08.2000
Von Karl Stankiewitz

Zum 100. Todestag des Philosophen: Mit Nietzsche durch den „uncivilisirten“ Bayerischen Wald
Frau Wirtin hat Geburtstag, spontan lädt sie zum Umtrunk ein. An jenem Sonntag, den 11. August 1867, waren die Wirtsleut von Arnschwang - die mittlerweile eine Brauerei mit Biergarten und mehrere Gasthöfe betreiben - offenbar nicht weniger gastfreundlich. Als nämlich zwei Philologiestudenten aus Leipzig, „schwer beladen mit Sack und Plaids“, zu Fuß ankamen und „zum ersten Male die für Fremde rein unverständlichen Laute der niederbayerischen Mundart“ hörten, wurden sie eingeladen, noch einen Tag länger zu bleiben, um eine Hochzeit zu erleben. Doch die beiden Wanderer wollten weiter auf ihrem „Zug in das Land der Urwälder und der Räuberhöhlen“ und beließen es dabei, sich „zur Vorbereitung etwas Muth“ anzutrinken.
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Noch ein Detail von Rohde:
... um eine Hochzeit zu erleben, von deren originellen Sitten wir bei Josef Rank genug Amüsantes gelesen hatten ...

Wikipedia:
Der Bauernsohn Josef Rank studierte in Wien Philosophie und Rechtswissenschaften und wurde mit Nikolaus Lenau bekannt. Seine Skizzen Aus dem Böhmerwalde (1843; 3 Bde., 1851) sind die ersten Beispiele für die „Dorfgeschichte“". In populärwissenschaftlichen Landesbeschreibungen werden Erzählungen eingebettet, politische und soziale Fragen aber eher vermieden.

Hoher Bogen, nach einigen Umwegen erreichen sie den Gipfel:

Hoher Bogen, Forstdiensthütte
Peter-und-Paul-Kapelle:

Rohde:

Ottenzell, abends
Nietzsche: Rohde:

... schien der Mond hell ...
Neuer Freysinger Kalender auf das gemeine Jahr 1867: 15. August Vollmond


12.8. (Montag): Lam-Waldeck-Mühlriegel-Bodenmais(Gasthaus Janka)--Silberberg-Bodenmais

Rohde, Führer:

Zwei Berge:

Abends in Bodenmais:
Mette/Schlechta 1935:

Wirklich „Gelberberg“?
KGA:

Aber Nietzsche:


Nietzsche hat viel eher „Silberberg“ geschrieben.
Und auch die beiden Maler stehen in einer extra Zeile, passt also besser zu Rohdes Angabe.

Aber was ist Steinwein?
Google weiß es direkt:
Früher gebräuchliche Bezeichnung für qualitativ hochwertige Weine aus dem deutschen Anbaugebiet Franken. Der Name geht auf den berühmten Würzburger Stein zurück.


Der ausführliche, spätere Reisebericht Rohdes endet mit diesem Tag. Als Quellen nur noch zur Verfügung: die Reisenotizen von Nietzsche und Rohde (vor allem seine Zeichnungen).

13.8. (Dienstag): Bodenmais-Arber(Führer)-Bayerisch Eisenstein(Post nach)-Zwiesel


Rohde-Skizzen (auch Nietzsche hat Arber gezeichnet, aber sehr sehr undeutlich):
nach Westen vom Arber: Kleiner Arber: Wikipedia:


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14.8. (Mittwoch): Zwiesel - Rabenstein - Villa Steigerwald - Zwiesel - (Regen)






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15.8. (Donnerstag): (Zwiesel)-Regen-Weißenstein-Schlossau-Bischofsmais-Rusel

Sie hatten in Zwiesel übernachtet, brachen nach Regen auf und kamen schließlich auf der Rusel an. Oder:
Nach Rohde, in seinem Notizbuch letzte Seite, Tages-Bilanzen, wären sie schon am 14.8. "bis Regen" gekommen, hätten also nicht in Zwiesel, sondern in Regen übernachtet. Das wäre durchaus auch mit den Aufzeichungen Nietzsches kompatibel, d.h. die beiden hätten dann auch nicht zweimal (sondern nur einmal) in Zwiesel übernachtet.



Nietzsche: „Heute ist Festtag. Marienhimmelfahrt.“

Regen

           
Nietzsche in seinen Notizen, auch Rohde hat es gezeichnet.

„Ein unansehnliches aber schon uraltes Wandgemälde am Hause des Bäckermeisters Jungbauer können wir nicht unerwähnt lassen, weil es seines wahren und tiefen Sinnes wegen an allen Häusern der Welt angemalt zu werden verdiente. Ein buntbefiederder storchähnlicher Vogel hat an der Brust ein Menschenanlitz, dessen Nase der Vogel mit dem Schnabel faßt. Darunter stehen die Worte: "nosce te ipsum".“
(Joh. Nep. Zöllner: Historische Notizen aus dem Bezirke Regen, Regen 1879, S. X)


Am 1. November 2013 waren wir in Regen
und ich habe es zufällig fotografiert(Stadtplatz 27):
noch da Juli 2023: Beim Hauseingang:



Auch anderweitig habe ich es gefunden, aber zunächst immer nur als Einzelfall:


https://fr.wikipedia.org/wiki/Gnothi_seauton (17. Jahrhundert) / Altdorfer Studentenbuch von 1676 (aufgetaucht in „Kunst & Krempel“, Dezember 2013)

AHA! Der Vogel Selbsterkenntnis

Lutz-Röhrig: Sprichwörtliche Redensarten:

Ausstellungskatalog: Ausstellung Prunkschlitten des Barock: Selb-Betrug:

Aus zwei Büchern zur Stiftsbibliothek in Waldsassen

......



Heißt es „nosce“ oder „cognosce“?
Auskunft Claudia Wiener, LMU München:
nosce te ipsum ist die übliche Wiedergabe von „gnothi s'auton“ (Cicero fin. 5, 44; leg. 1, 58 und 61; Tusc. 1, 52);
Simplex statt Kompositum ist üblich und oft eleganter als die längere Variante.

Abgesehen von der Traditionspflege des Vogels Selbsterkenntnis in Regen, habe ich bisher nur museale Überreste dieses barocken Mems gefunden, obgleich ich mich mittlerweile auf Hausfassaden spezialisert habe.
Selbst bei meinem ersten Aufenthalt in der Neuen Welt (Montreal), im Herbst 2023, habe ich danach Ausschau gehalten und mir notiert:
   Bei den Bildern im Inuit-Laden interessierte mich nur:
   Gibt es vom Vogel Selbsterkenntnis eine weitere Spur?

Und doch habe ich kürzlich (ganz zufällig) eine kuriose Überlieferung im Roman Das periodische System (1975) von Primo Levi (1919-1987) gefunden, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, gleich im ersten Kapitel:
Ein Schiffskapitän, „der Gnor Grassiado einen großen bunten Papagei geschenkt hatte, welcher aus Guayana stammte und auf lateinisch 'Erkenne dich selbst' sprach. Gnor Colombo [dessen Freund] war arm und Mazzini-Anhänger; als der Papagei eintraf, kaufte er sich eine fast federlose Krähe und brachte ihr das Sprechen bei. Wenn der Papagei 'Nosce te ipsum' sagte, dann entgegnete die Krähe: 'Fate furb.' ('Sei pfiffig')“ ('sei clever'?)

Weißenstein (Das fressende Haus)

https://www.literaturportal-bayern.de:

Rohde:

Rusel


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16.8. (Freitag): Rusel-Greising-Ulrichsberg-Berg-Egg-Weibing

Weitere von Nietzsche genannte Orte: Sauloch(-Schlucht), Alberting, Perlbach?, Tiefenbach (Groß- und Kleintiefenbach)

Rusel

Nietzsche und Rohde in ihren Notizbüchern: „Sonnenaufg(ang) 4½ Uhr.“
„Schon von dem Wirthshause auf der Rusel hat man eine prachtvolle Aussicht über das Donauthal bis zu den Alpen, doch ist es angezeigt, im Wirthshause zu übernachten und zeitlich früh vor Sonnenaufgang nach dem ½ Stunde entfernten Hausstein zu wandern, von welcher Bergkuppe die Aussicht viel ausgebreiteter ist als vom Wirthshause.“ (Karl Pascher: Führer durch den Böhmerwald, Pilsen 1878, S. 54)

Greising

Ulrichsberg


Aus der Ferne (mit Fernmeldeturm Hochoberndorf) und von oben (Wikipedia, Hansueli Krapf, Simisa)

Berg

430 m über Null (Deggendorf: 314 m) / Berg bis REWE Deggendorf: 3,1 km, 4 Min. mit Auto

Altes Schulhaus, erbaut 1872, letzter Unterricht 1977.

„Denkmalschützer möchten das alte Berger Schulhaus gerne erhalten. Es befindet sich aber in Privatbesitz. Für die zuständige Referentin des Landesamts für Denkmalschutz, Julia Ludwar, ist es im Zusammenspiel mit Kirche und Wirtshaus besonders schützenswert. Diese drei Gebäude bilden die Urzelle des Dorfes.“ (RegioWiki Niederbayern, Eintrag “Berg (Metten)“)

Das Wirtshaus als Urzelle:

Also geschlossen ...

Auch die Bäckerei wirkt nicht mehr sehr lebendig:

„Nach 90 Jahren: Traditionsbäckerei in Berg schließt“, Alexandra Linzmeier, 30.12.2020 (https://www.idowa.de, Isar-Donau-Wald)
Nur noch Kirche und Friedhof (und der Maibaum) wirken gepflegt

Egg


Nietzsche und Rohde in Egg: der Graf v. Armansperg hatte nach seiner Rückkehr aus Griechenland und Pensionierung 1837, ab ca. 1840 Ort und Schloss Egg neu gestalten lassen.




Schloss Egg im neugotischen Stil und Gambrinus, der König des Bieres


„Dimitri Cantacuzène (1817–1877) war Flügeladjutant König Ottos von Griechenland gewesen, Großgrundbesitzer und Senator in Rumänien“ ... „Gräfin Sophie Armansperg-Egg [1819-1868], die Dimitri Cantacuzène 1835 in Athen geheiratet hatte“. (Klaus E. Bohnenkamp: Hofmannsthals Egeria - Elsa Prinzessin Cantacuzène, später verheiratete Bruckmann ..., Hofmannsthal-Jahrbuch 18/2010, S. 14)


Gegenüber Schloss: die Wirtschaft von 1884, von der jetzigen Familie betrieben seit ca. 1930. Im früheren Wirtsgarten ein Hain für den Philosophenkaiser. Das heutige Restaurant und Hotel im Schloss gibt es erst seit 1963.

Weibing



⇒ Nietzsche und Rohde haben wahrscheinlich in Weibing übernachtet für je 18 Kreuzer.
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17.8. (Samstag): Weibing-Deggendorf -- Eisenbahn nach Regensburg


Nietzsche: speisten in Deggendorf im „schwarzen Adler“ und nahmen dann für „2 Gulden Eisenbahn bis Regensb(urg)“





„Am 8. März 1866 wurde die Bahn feierlich eingeweiht. Nach dem kirchlichen Segen konnte jedermann an einer Freifahrt teilnehmen. Das Festessen war im Gasthof Pustet, der abendliche Festball im Gasthof "Zum schwarzen Adler". Die Bahn hatte insgesamt 280.000 fl. gekostet. Täglich verkehrten vier Züge in jeder Richtung, die Fahrzeit betrug zwanzig Minuten.“
(Walther Zeitler: Eisenbahnen in Niederbayern und der Oberpfalz, Weiden 1985, S. 108. Lies auch Bernhard Rückschloß: Die Bahnhöfe im Landkreis Deggendorf, Deggendorfer Geschichtsblätter 21/2000.) --

Zum „schwarzen Adler“ oder zum „Schwarzen Adler“?


Nietzsche: „Übernacht in Regensburg in den drei Helmen“
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18.8. (Sonntag): Regensburg-Donaustauf-Walhalla


Leo von Klenze: Walhalla in artistischer und technischer Beziehung, München 1842

Nietzsche 1867: „Bach und Beethoven fehlen“.

„Seit Ende Juli 1868 prangt als letzter Ankömmling in der Walhalla Ludwig von Beethoven, dessen Büste A. Lossow (1866) nach einem Modelle Dietrichs anfertigte.“ (Hans Weininger: Fremdenführer durch Regensburg und dessen Umgebung (1876), S. 73)

Bach-Büste von „Fritz Behn, Aufstellung der Büste 11.7.1916“. (Walhalla, Amtlicher Führer, 2004, S. 45)

Nietzsche fehlt!?
Ludwig I.: „Gleichheit besteht in der Walhalla; hebt doch der Tod jeden irdischen Unterschied auf!“

Internet-Recherche:
- kaum noch freie Plätze
- zuletzt kamen Käthe Kollwitz (2019) und Max Planck (2022) hinzu
- Mindestens 100 Vorschläge
- Kosten für Büste muss Antragsteller selbst zahlen
- auf Vorschlagsliste auch Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß
- auf Vorschlagsliste auch Nietzsche

„Es gibt eine Vorschlagsliste; die Bayerische Akademie der Wissenschaften erstellt zu den Kandidaten Gutachten. Fritz Bauer werde nun in diese Liste aufgenommen, erklärt Minister Sibler. "Sein Kampf für die Gerechtigkeit - wenn es sie überhaupt jemals geben kann - war mehr als beeindruckend." Das nächste Auswahlverfahren für die Walhalla beginne voraussichtlich 2023.“
(Jakob Wetzel: Bekommt Fritz Bauer eine Büste in der Walhalla?, SZ-Online v. 12.5.2021:


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19.8. (Montag): Regensburg-Nürnberg

20.8. (Dienstag): Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum

21.8. (Mittwoch): Nürnberg-Coburg

22.8. (Donnerstag): Coburg-Meiningen(abends Konzert)

Rohde, Konzert, "Nirwana":

23.8. (Freitag): Meiningen: Ausflug zum nahegelegenen Schloss Landsberg (nicht Landsberg/Lech oder Landsberg/Saalekreis)


Mit dem 23.8. enden die Reisenotizen Nietzsches. Auch Rohde vermerkt in seinen Notizen für den 23.8. noch den Ausflug zum Schloss Landsberg.
Die Notizen Rohdes enden mit Samstag 24.8.


22.8. (Donnerstag) bis 25.8 (Sonntag): Musikfest in Meiningen

Kanonier Nietzsche an Carl von Gersdorff (Nov./Dez. 1867):



Angenommen Sonntag 25.8. haben sie Meiningen verlassen und sich in Eisenach getrennt, dann hätte die Böhmerwaldreise insgesamt 18 Tage gedauert, 8 Tage davon im eigentlichen Böhmerwald (Cham bis Deggendorf).

Auf der letzten Seite von Rohdes Notizheft findet sich eine Tages-Bilanz mit (Übernachtungs-)Orten und Ausgaben für insgesamt 17 Tage:

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Trennung in Eisenach, Briefwechsel

Otto Crusius: Erwin Rohde (1902), S. 21:





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1876 Nietzsche in Klingenbrunn

Szenenwechsel:

Wagner in der Walhalla (aufgestellt 29.5.1913) / Ludwig II. in Landau an der Isar / Mai 1864: Wagner begegnet Ludwig II. / Nov. 1868: Nietzsche begegnet Wagner



„In einem tief in Wäldern verborgnen Ort des Böhmerwalds, Klingenbrunn, trug ich meine Melancholie und Deutschen-Verachtung wie eine Krankheit mit mir herum — und schrieb von Zeit zu Zeit, unter dem Gesammttitel "die Pflugschar", einen Satz in mein Taschenbuch, lauter harte Psychologica, die sich vielleicht in "Menschliches, Allzumenschliches" noch wiederfinden lassen.“ (Ecce homo)



4. und 12. August waren Reisetage (10km/h Postkutsche), demnach hätte Nietzsche 7 Tage in Klingenbrunn verbracht
bzw. er war 9 Tage abwesend von Bayreuth.

Süddeutsche Sonntagspost
Jahrgang 6, Nr. 51
18. Dezember 1932

Heftthema:
Der weinende Wald
Die Redaktion auf Reisen

S. 16, ganzseitiger Artikel:
Ein berühmter Mann war in Klingenbrunn
Auf Friedrich Nietzsches Spuren im Bayerischen Wald
Hugo Rütters

Zwei Fotografien
Eine Fotografie vom Wirtshaus „Zum Ludwigstein“
Belegt: gleiches Gebäude wie heute, z.B. auch gleiche Anzahl Fenster bei den Stockwerken.

Leider auch in diesem Text keine Aussage, nach welchem Ludwig der Berg „Ludwigstein“ benannt ist.

Nietzsche wird zitiert (aus Ecce homo):
„In einem tief in Wäldern verborgenen Orte des Böhmerwaldes, Klingenbrunn, trug ich meine Melancholie wie eine Krankheit mit mir herum — und schrieb von Zeit zu Zeit unter dem Gesamt-Titel 'Die Pflugschar' einen Satz in mein Taschenbuch, lauter harte Psychologica, die sich vielleicht noch in 'Menschliches-Allzumenschliches' wiederfinden lassen.“

Aber da fehlt doch was (selbst ... fehlen)!:

„In einem tief in Wäldern verborgnen Ort des Böhmerwalds, Klingenbrunn, trug ich meine Melancholie und Deutschen-Verachtung wie eine Krankheit mit mir herum — und schrieb von Zeit zu Zeit, unter dem Gesammttitel "die Pflugschar", einen Satz in mein Taschenbuch, lauter harte Psychologica, die sich vielleicht in "Menschliches, Allzumenschliches" noch wiederfinden lassen.“

Im bayrischen Walde fieng es an,
Basel hat was dran gethan,
in Sorrent erst spann sich’s groß und breit,
Rosenlaui gab ihm Luft und Freiheit.
Die Berge kreißten, am Anfang, Mitt‘ und End‘!
Schrecklich für Den, der das Sprüchwort kennt.
Dreizehn Monat, bis die Mutter des Kinds genesen –
ist’s denn ein Elephant gewesen?
oder gar eine lächerliche Maus?
So sorgt sich der Vater: lacht ihn nur aus!

Nietzsche schickte „Menschliches, Allzumenschliches“ mit einer
launigen Widmung an Richard und Cosima Wagner, um zu prätendieren,
vieles in dem Buch dürfe schalkhaft aufgefaßt werden. Klopfenden
Herzens und mit unbestimmten Erwartungen gab er das Paket
auf die Post. Auf der ersten Seite des Buches stand, was im
Entwurf folgendermaßen skizziert war:

„Dem Meister und der Meisterin
entbietet Gruß mit frohem Sinn
beglückt ob einem neuen Kind
von Basel Friedrich Freigesinnt.
Er wünscht, daß sie mit Herzbewegen
aufs Kind die Hände prüfend legen
und schauen, ob es Vaters Art,
wer weiß? selbst mit 'nem Schnurrenbart.
Und ob es wird auf Zween und Vieren
sich tummeln in den Weltrevieren.
In Bergen wollt zum Licht es schlüpfen,
gleich neugeborenen Zicklein hüpfen.

Was ihm auf seinem Erdenwallen
beschieden sei, es will gefallen;
nicht vielen; fünfzehn an der Zahl,
den anderen werd es Spott und Qual.
Doch eh wir in die Welt es schicken,
mög Meisters Treuaug segnend blicken,
und daß ihm folge fürderhin
die kluge Gunst der Meisterin.“

(Fischer-Dieskau, S. 171, vgl. eKGWB/NF-1877,22[92])

„Nietzsche selbst betrachtet als den Anfang seines
'eigentlichen' Philosophierens 'Menschliches, Allzumenschliches'.
Sein 'eigentliches' Werk besteht demnach aus:
 'Menschliches, Allzumenschliches', I und II,
 'Morgenröte',
 'Die fröhliche Wissenschaft',
 'Also sprach Zarathustra', I-IV,
 'Jenseits von Gut und Böse',
 'Zur Genealogie der Moral',
 'Der Fall Wagner',
 'Götzendämmerung',
 'Nietzsche contra Wagner',
 'Ecce homo',
 'Der Antichrist'.“

(Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche, München 1959, S. 81)

Vgl. auch Brief an Franz Overbeck in Basel, Rapallo, 31. Dezember 1882:
„Nun, was soll werden? Meine Selbst-Überwindung ist im Grunde meine stärkste Kraft: ich dachte neulich einmal über mein Leben nach und fand, daß ich gar nichts weiter bisher gethan habe. Selbst meine "Leistungen" (und namentlich die seit 1876) gehören unter den Gesichtspunkt der Askese.“